Montagmorgen acht Uhr sieben. K saß an einem der runden Starbuckstische vor einer Tasse schwarzen Kaffees, dessen Säure ihm bereits nach dem zweiten Schluck fiesestes Sodbrennen zu bescheren versprach und starrte Löcher in die Wand. Auf dem Tisch befand sich nichts weiter als besagte Tasse Kaffee, eine Schachtel Kippen samt Feuerzeug sowie sein iphone dessen Display total im Arsch war, nachdem er es neulich beim Warten auf die S-Bahn hatte fallen lassen. Aus den mitgelieferten Billigkopfhörern tönte gerade das Anfangsriff von Seek and Destroy, als K aus seiner Trance erwachte und einen weiteren Schluck Kaffee nahm. Dabei musste er unvermittelt an eine Episode aus seiner Schulzeit denken, was irgendwie komisch war, da er dachte alle Erinnerungen an selbige erfolgreich verdrängt zu haben. Es musste etwa um die achte Klasse herum gewesen sein als sie einmal eine Tropfsteinhöhle, Müllverbrennungsanlage oder wahlweise auch einen Staudamm, weiß der Geier, besichtigt hatten. Jedenfalls war keine Schule und es war K auf der Busfahrt vor allen anderen gelungen, dem Fahrer seine Musikkassette zuzustecken. Man schrieb übrigens das Jahr 1993 und Deutschland wurde von einer tsunamiartigen Welle des Dancefloors à la 2 Unlimited, Culture Beat und Haddaway überschwemmt. Auf der Musikkassette befand sich Metallicas Black Album, die der Busfahrer, allem Gezeter der pickelgesichtigen Bagage zum Trotz, bis zum Ende durchlaufen ließ. Jetzt, wo er so darüber nachdachte, war diese Erinnerung eine von wenigen guten, die K an seine Schulzeit hatte. Die sechs Jahre zwischen dem Verlassen der Grundschule und dem Besuch der gymnasialen Oberstufe waren die absolute Hölle, und er hatte seine Eltern jeden Tag aufs Neue dafür verflucht, dass sie ihn auf diese Schule geschickt hatten. Nicht einmal ein zeitlicher Abstand von gut zwanzig Jahren konnte ihn dazu bringen diese Zeit in einem positiveren Licht zu sehen. Dennoch war K rückblickend der Meinung, dass es zu einem Großteil diese Zeit war, die ihn auf das Leben vorbereitet und ihn auf den Weg, auf dem er sich gegenwärtig befand, geführt hatte. Sie hatte ihm genau gezeigt, wie er niemals sein, was er niemals werden wollte.
Er zog die Kopfhörer aus den Ohren, stand auf, wobei er mit der Hüfte an den ohnehin recht wackeligen Tisch stieß, so dass sein Kaffee überschwappte, nahm, ein leises „Scheiße“ murmelnd, Kippen und Feuerzeug und ging vor die Tür, um eine zu rauchen. Nachdem er sich eine angesteckt und einige Male gezogen hatte wurde ihm übel. Das im Jargon Nuttenfrühstück genannte Menü bestehend aus Kaffee und Zigarette bekam ihm heute, nach einer harten Nacht, schlecht. Außerdem war es draußen arschkalt, so dass er die erst halb aufgerauchte Kippe gleich wieder zu Boden schnippte, mit dem Fuß austrat und zurück an seinen Tisch ging. Nichts desto weniger hatten die wenigen Züge ausgereicht, ihm einen leichten Schwindel zu bescheren. Aus den Lautsprechern der Filiale in der Wilmersdorfer Straße tönte zum gefühlten hundertsten Mal das in jedem Starbucksstore der Welt in Endlosschleife zu laufen scheinende „Rudolph the Red Nosed Reindeer“. K hasste diesen Song, und jedem Menschen, den er darauf ansprach, ging es genauso. Warum wurde er dennoch jedes Jahr zwei Monate lang mit Whams „Last Christmas“ und Mariah Careys mindestens ebenso abscheulichem Machwerk dessen Titel ihm jetzt ums Verrecken nicht einfallen wollte in Endlosschleife gespielt? Wayne dachte er sich und verließ erneut die Filiale, die kein eigenes Klo hatte, weshalb man ständig in die Wilmersdorfer Arcaden gehen musste, um seine menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Genau in dem Moment als er los wollte vibrierte sein Telefon. Wer zur Hölle rief ihn um viertel nach acht an? Hektisch popelte er sich die Kopfhörer in die Ohren – er hasste die Fettflecken, die auf dem Display zurückblieben, wenn man mit dem Telefon am Ohr telefonierte – und nahm den Anruf von „unbekannt“ an. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine weibliche Stimme, die er nicht richtig einzuordnen wusste, die er aber schon einmal gehört zu haben glaubte, mit einem schlichten „Hallo“. Die darauffolgende Stille war in etwa so angenehm wie die letzte Minute vor Beginn einer viel zu lang hinausgezögerten Wurzelbehandlung. Auch, wenn ihm noch immer nicht klar war, wen er da eigentlich am Apparat hatte, stiegen in ihm Erinnerungen an tränenreich durchstrittene Nächte, an die Wand geworfene Telefonhörer und an ebenjene klopfende Nachbarn auf. K war nicht der Typ, der über Beziehungsprobleme sprach. Sobald sich der anfängliche rosa Nebel zu lichten begann und sich erste Ermüdungserscheinungen einstellten, zog er sich stets in sich selbst zurück und schloss, man mag das Pathos entschuldigen, sein Herz ab. Er hatte sich mit den Jahren – in wenigen Tagen würde er seinen 28. Geburtstag feiern – einen Raum geschaffen, zu dem nur er allein Zugang hatte und in dem er keine Eindringlinge duldete. Immer wenn er versuchte sich diesen Raum bildlich vorzustellen, musste er jedoch unweigerlich an die Szene aus dem Film Fight Club denken, in der Tyler Durden in einer Höhle seinem Power Animal, einem Pinguin, begegnete, der ihn mit dem Wort „Slide“ begrüßte, um dann auf dem Bauch davon zu rutschen.
In einen solchen Raum zog er sich immer dann zurück, wenn ihm alles zu viel wurde, wenn ihm Menschen zu nahe kamen, und so war er in den zahlreichen Beziehungen, die er in den letzten Jahren geführt hatte, dem Glück, das er so verzweifelt suchte, kein Stückchen näher gekommen. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass K nicht zu der Sorte Typ gehörte, der Schluss machte bzw. machen konnte. Wenn mal wieder aus einer Beziehung die Luft raus war, dann zog er sich einfach immer weiter zurück und verbrachte lieber die Zeit mit seinem Power Animal anstatt mit Anne, Katrin oder Merle. Das hatte logischerweise über kurz oder lang zur Folge, dass Frau mit ihm Schluss machte. In jeder Hinsicht der Königsweg, wenn es darum ging, Beziehungen zu beenden: einfach langsam und ruhig auslaufen lassen. Das klappte immer.
Noch immer hatte die Stimme am anderen Ende der Leitung nichts weiter als „Hallo“ gesagt, und als K gerade im Begriff aufzulegen war, weil er keinen Nerv auf Ratespielchen hatte, fragte die Stimme „Erinnerst Du Dich noch an mich?“. Was sollte nun der Scheiß? War das ne Quizshow? „Vielleicht. Hast Du auch einen Namen?“. „Du bist echt das Letzte! M. Schonmal gehört?“. Und nun wurde dieses Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als er das „Hallo“ aus dem Hörer vernommen hatte zu etwas Festem. Etwas mit Substanz. Etwas materialisierte sich, wurde greifbar. Na klar, M! Sein Trauma, seine Nemesis. Wie lange war das jetzt her? Zwei Jahre? Drei Jahre? Noch länger?
Die Geschichte mit M damals hatte K gelehrt, dass er nicht der nette Junge war, für den er sich bis dahin immer gehalten hatte. Erinnerte ihn daran, dass auch er sich letztlich immer selbst der nächste war. Grundsätzlich kümmerte es ihn einen Scheiß, was andere Leute von ihm hielten. Es ging ihm immer nur darum, seinen eigenen Ansprüchen an sich selbst gerecht zu werden. Und dennoch, die Geschichte mit M hatte etwas in ihm verändert. Hatte ihm gezeigt, was es hieß, Schuld auf sich zu laden. Schuld, in verschiedenerlei Hinsicht. Diese Schuld war zu seinem ständigen Begleiter geworden. Sie war immer da, rief sich zu den merkwürdigsten Augenblicken ins Gedächtnis und war manchmal gar nicht mehr mit ihrer Ursache selbst verbunden, sondern existierte vielmehr um ihrer selbst willen. Um ihn daran zu erinnern, dass es ihm jetzt zwar gut gehen mochte, dass dieses Glück jedoch auf dem Humus des Unglücks anderer gewachsen war. Seither hatte er nicht mehr dieselbe Beziehung zu sich selbst wie er sie früher einmal gehabt hatte. Er hatte keine weiße Weste, war kein Saubermann mehr, nicht mehr der Traumschwiegersohn für den ihn viele Leute hielten. Doch das alles spielte sich nur in seinem Inneren ab, so dass niemand ahnte, was in ihm vorging. Jedem, dem er die Geschichte mit M damals anvertraut hatte sagte nur, „Und, sowas passiert im Leben“. Jeden Tag. Tausende Male. Doch für ihn war es etwas anderes. Es hatte gegen seine Ethik verstoßen niemals eines anderen Menschen Gefühle auf diese Art und Weise zu verletzen. Und es hatte stark an seinem Selbstbild als Mensch gerüttelt. Hierbei ging es letzten Endes vielleicht gar nicht darum, dass ihn die Schuld gegenüber der Person, die er als sein Opfer empfand, beschwerte. Vielmehr war es eine Art grotesken Mitleids, das er für sich selbst empfand. Er sah die Sache so: Er war kein schlechter Mensch, aber er hatte etwas getan, das sowohl subjektiv als auch objektiv betrachtet schlecht war. Zu diesem Ergebnis kam er, weil nur er allein in der Lage war, in sich selbst hineinzuschauen. Für andere Menschen mochte die einfache Gleichung à la Forrest Gump gelten: Schlecht ist der, der Schlechtes tut, doch so einfach war es deshalb für ihn noch lange nicht. War es niemals. Zwar war er sich der Falschheit seines Verhaltens in jedem Augenblick bewusst gewesen, doch hatte er damals keine andere Möglichkeit, sich zu Verhalten, gesehen.
Er hatte M kennengelernt, als es mit seiner Dauerfreundin S gerade mal wieder absolut nicht lief. Wobei das relativ milde ausgedrückt war. Ihre Beziehung war nach gut fünf Jahren am Ende auch wenn das zu diesem Zeitpunkt noch keiner von beiden wahrhaben wollte. Oder doch? Egal. Gewusst hatten es beide jedenfalls schon seit geraumer Zeit. Dessen war K sich sicher. Dann ergab sich für ihn die Möglichkeit für ein Semester im Ausland zu studieren. Der Aufenthalt dort würde ihm später bei der Arbeitssuche zum Vorteil gereichen und er hatte die Chance über allerlei Zeugs nachzudenken. Sich über einiges klar zu werden und ggf. nach seiner Rückkehr einen neuen Start mit S versuchen können. Doch alles kam ganz anders. Er lernte die fünf Jahre jüngere M bei einem Sprachkurs an der Uni kennen. Sie war aus irgendeinem Grund gleich am Ende der ersten Stunde auf ihn zugekommen und hatte ein Gespräch begonnen. Eine Weile später hatte sie ihn dann zu einem Architekturspaziergang, den einer ihrer Professoren anbot, eingeladen. Irgendwie war er dabei dem falschen Eindruck aufgesessen, dass sie nicht nur ihn, sondern auch alle umstehenden Kursteilnehmerinnen dazu eingeladen hatte und war entsprechend überrascht als lediglich sie am vereinbarten Treffpunkt auf ihn wartete. Wie er später herausfinden sollte hatte sie einzig ihn gefragt, und sie hatten entsprechend so etwas wie ein Date. Die Architekturführung stellte sich als der letzte Scheiß heraus, und als sie endlich ihr Ende gefunden hatte, waren sie froh Land zu gewinnen und irgendwo einen Happen essen zu gehen. Aus diesem ersten Treffen zu zweit entwickelte sich dann eine Beziehung, die sich schlecht mit Worten beschreiben lässt. Man traf sich, er stets mit schlechtem Gewissen S gegenüber, sprach endlos lang miteinander, verpasste die letzte Bahn nach Hause und verbrachte die Nacht gemeinsam in einem 24 Stunden Restaurant. Quatschend. Das wars. Und auch wenn K damals alles tat, um es sich selbst nicht eingestehen zu müssen, so kam er letztlich doch nicht umhin zuzugeben, dass er sich äußerst schmerzlich verliebt hatte. Doch, und damit hielt er sich und sein schlechtes Gewissen über Wasser, es war nie etwas passiert. M und er sprachen einfach miteinander, sie hakte sich auf dem Nachhauseweg bei ihm unter und beide waren mit der Situation, so wie sie war, zufrieden. Einmal sagte sie ihm, dass er für sie wie ein großer Bruder sei, bei dem sie sich sicher und geborgen fühlte. Sich vor nichts fürchtete. Doch dann, einige Wochen später führte eines zum anderen und K’s Leben drehte sich um 180 Grad. Er und S hatten sich einmal wieder am Telefon gestritten und dieses Mal derart heftig, dass es ihm einfach zu viel wurde und er die Beziehung beendete. Wie und auf welche unschöne Art und Weise dies geschah bietet genug Stoff für eine eigene Geschichte und soll daher an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Hatte die Beziehung zu S bisher immer irgendwie auch den Hauch des Verbotenen gehabt, wie gesagt, man verbrachte die Nächte quatschend in Bars, aß und betrank sich gemeinsam und fühlte sich, wie sich nur ein frisch verliebtes Pärchen fühlte, mit dem einzigen Unterschied, dass man kein Pärchen war, so stand dem nächsten Schritt nun nichts mehr im Wege. Dementsprechend ging danach alles ganz schnell. Am nächsten Tag waren K und M bereits ein Paar und taten von nun an das, was sie bisher auch schon getan hatten, nun jedoch offiziell. Und natürlich gesellte sich nun ebenfalls eine körperlich-sexuelle Dimension zu ihrer Beziehung hinzu. Es war eine wahrhaft schöne Zeit, wie im Traum, und beide hatten das Gefühl, sie würde nie zu Ende gehen, doch im Hintergrund tickte fortwährend die Uhr, näherte sich der Tag, an dem er nach Deutschland zurückkehren und S die Stirn bieten würde. Doch zunächst gab es für ihn nichts weiter als dieses rosarote Gefühl, schwülstige Liebesschwüre und die Erkenntnis, wie sehr er das alles vermisst hatte. Die Jagd. Zwar war er nun mehr oder weniger mit M zusammen, doch hatte ihm die Trennung von seiner langjährigen Freundin ebenfalls bewusst gemacht, wie groß der Kick war, eine vollkommen fremde Frau anzusprechen. Wie sehr er das Risiko genossen hatte, nicht zu wissen, ob er abgewiesen oder mit offenen Armen empfangen würde. Lang vorbei waren die Tage seiner Jugend, in denen er die Zähne nicht auseinanderbekommen hatte und stundenlang mit seinen Freunden in der Ecke irgendeines Clubs gestanden und darauf gewartet hatte, dass ihn endlich seine Traumfrau ansprechen würde. Er hatte verstanden, dass man etwas, das man wollte, nur bekam, wenn man selbst die Initiative ergriff. Seither konnte sich seine Erfolgsbilanz durchaus sehen lassen, wenn er auch alles andere als ein typischer Frauenschwarm war. Doch langer Rede kurzer Sinn. Was passierte nun, als die Zeit des Abschieds gekommen war? Was würde ein absolut charakterschwacher Mensch, der drei Monate wie ein frisch verliebter Mitzwanziger, der er ja auch war, ohne auch nur einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden tun, sobald er zurück nach Hause, in seine gewohnte Umgebung mit seinen alten Freunden, alten Problemen etc. kam?
Es dauerte nicht einmal zwei Tage, da traf er sich mit M und nachdem viel geredet und noch mehr geheult worden war, kam man zu dem Entschluss, dass man es noch einmal miteinander versuchen wollte. Der Abschied von S war die Hölle, denn würde K sagen, er wäre von heute auf morgen nicht mehr bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen, er würde lügen. Doch dem Abenteuer zog er die Sicherheit, statt dem Neuen, die Gewohnheit vor. Kurz, er wählte den für ihn einfachsten Weg. Dabei war es gar nicht so, dass er nicht allein sein konnte oder gar Angst davor hatte. Er konnte sehr gut allein sein, hatte einigermaßen viele lustige Bekannte, die ihn von was auch immer ablenken konnten und genügend Hobbies, um sich die Zeit angenehm vertreiben zu können. Das konsequenteste und im Nachhinein einzig richtige wäre aus K’s heutiger Sicht gewesen, sich einfach von beiden zu trennen und erst einmal eine Weile in sich zu horchen, um zu erkennen, was in seinem Leben nicht stimmte, was er eigentlich wollte. Stattdessen stürzte er ein neunzehnjähriges Mädchen ins Unglück. Das mag vielleicht dramatisch klingen, doch niemals wird er vergessen können, wie hilflos S am Telefon weinte als er ihr von seinem Entschluss erzählte. Natürlich sind Trennungen in der Regel tränenreich, das wusste er, denn oft genug war er verlassen worden. Doch zu wissen, dass es allein seinem Egoismus geschuldet war, dass er nun diesem Mädchen, für das er doch zunächst wie ein großer Bruder gewesen war, das Herz gebrochen hatte, das war zu viel für ihn. Und plötzlich war nicht mehr er der Täter, sondern das Opfer. Er igelte sich zu Hause ein und tat sich unglaublich leid, weil er etwas Schlechtes getan hatte. Dabei dachte er nicht eine Sekunde daran, wie sich M eigentlich fühlen musste, nachdem sie drei Monate mehr oder weniger „betrogen“ worden war. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um S. An ihr bitterliches Weinen und Flehen kann er sich selbst heute noch erinnern. Und auch das Gefühl der Schuld, trägt er noch immer mit sich herum. Das alles mag absurd vor dem Hintergrund erscheinen, dass S mittlerweile tausend weitere Male verlassen worden sein konnte bzw. ebenso oft andere Männer verlassen hatte und jetzt vielleicht glücklich verheiratet war. Doch darum ging es ihm gar nicht. Es ging ihm vielmehr um das Gefühl der Schuld, das schwer auf ihm lastete, wobei er sich gleichzeitig einzureden versuchte, dass dies alles totaler Quatsch sei, da es Ewigkeiten zurücklag und er bei weitem nicht toll genug war, als dass man lange um ihn trauern müsste, um über einen Korb hinwegzukommen. Doch woran lag es, dass er dieses Gefühl einfach nicht abstreifen konnte? Und wie hätte er sich anders verhalten können als seinem Herzen zu folgen? Was für ein schmalziger Satz, aber die Frage bleibt dieselbe. Was soll man tun, wenn man selbst nicht weiß, was man will bzw. heute denkt A sei richtig, um am nächsten Tag zu dem Schluss zu kommen, dass ganz im Gegenteil B richtig gewesen wäre? Kann man sich einfach aus der Affäre ziehen, indem man sagt Irren sei menschlich? Wie weit kam man mit dieser Ethik? Ließe sich damit nicht nahezu alles rechtfertigen?
Nun war sie jedenfalls am Telefon, und er verspürte plötzlich den übermächtigen Drang sie wieder zu sehen. Sich bei Ihr zu entschuldigen, Ihr zu sagen, wie dumm er damals gewesen war, wie egoistisch er gehandelt hatte. Er wollte diese Schuld, die er nun schon so lange mit sich herumschleppte ein für alle mal loswerden, sie um Vergebung bitten. Und dabei kannte er noch nicht einmal den Grund ihres Anrufs. Und sollte ihn auch niemals erfahren, denn ehe er auch nur ein einziges Wort hervorbrachte hatte sie bereits wieder aufgelegt.